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Presse-Mitteilungen und -spiegel

Die ZEIT Nr. 38 vom 14. September 2006, S. 84

Die Lotsen

Wie Migranten einander beim An- und Weiterkommen in Deutschland helfen

Natalia Wagner, 41, Sozialarbeiterin in Frankfurt am Main

Kein Wort Deutsch sprach Natalia Wagner, als sie 1995 im Ankunftslager für Spätaussiedler ankam. "Meine Vorstellungen von Deutschland waren rosarot", sagt sie heute. Aber der Empfang war ernüchternd: Niemand wollte den Dialekt ihres russlanddeutschen Mannes verstehen. Sie fühlte sich isoliert. Wenn ihr in der Stadt jemand entgegenkam, wechselte sie die Straßenseite. "Ich hatte Angst, der könnte mich etwas fragen, und ich kann nichts antworten."

Zehn Jahre danach hilft Natalia Wagner selbst Spätaussiedlern beim Ankommen in Deutschland. Stolz führt sie durch die Räume des Vereins Deutsche Jugend aus Russland (DJR) im Frankfurter Stadtteil Preungesheim. Aushänge kündigen Tanzkurse an, Sprachkurse, Nachhilfe. Eine Band probt, ein Lehrer hilft beim Verfassen von Aufsätzen und Referaten. In der Kunst-AG haben die Jugendlichen ihre alte und ihre neue Heimat gemalt: die nüchternen Bankentürme Frankfurts und die goldenen Zwiebeltürme der orthodoxen Kirchen.

Einen "Schonraum" nennt Wagner den Treffpunkt. "Die Menschen, die neu in Deutschland sind, brauchen jemanden, der sie versteht, der ihre Sprache spricht und ihre Erfahrungen teilt."

Häufig muss sie den Neuankömmlingen erst einmal das deutsche Bildungssystem erklären. "Die hören "Hauptschule" und denken: "Das ist die Haupt-Schule, die wichtigste Schule, da muss ich hin!"". Was tun, wenn ein Mädchen mit 19 Jahren nach Deutschland kommt? In eine normale Schule kann die junge Frau nicht mehr gehen. Aber solange sie kein Deutsch spricht, bekommt sie auch keinen Ausbildungsplatz und keine Arbeit. Natalia Wagner vermittelt ihr einen Platz in einem Projekt der Otto-Benecke-Stiftung, die Zuwanderern ermöglicht, einen deutschen Schulabschluss zu bekommen.

Sie selbst hat damals jeden Sprachkurs gemacht, den sie finden konnte; an der Volkshochschule, in der Kirchengemeinde, Deutsch für Mutter und Kind. Nach anderthalb Jahren fühlte sie sich fit für ein Studium. Die Caritas hatte ihr sehr geholfen während der Zeit im Aussiedlerwohnheim. So etwas wollte sie auch tun und entschied sich für Sozialarbeit. Seit ihrem Abschluss 2001 leitet Wagner den Klub in Frankfurt. Für die etwa 1500 Spätaussiedler, die jedes Jahr neu an den Main kommen, ist sie die wichtigste Ansprechpartnerin.

Die Hessische Landesregierung hat ihre Arbeit vor zwei Jahren mit dem Integrationspreis ausgezeichnet. Aber Wagners wahrer Stolz sind die Jugendlichen, die früher ihre Hilfe brauchten und heute studieren und ehrenamtlich mitarbeiten, Reisen organisieren, Theaterbesuche, Trainingslager für den eigenen Fußballclub Union DJR. Bei einem Arbeitseinsatz der Kriegsgräberfürsorge hätten sie mit Litauern, Polen und Russen zusammengearbeitet, berichtet Eugen, der 21-jährige Vorsitzende der DRJ-Kreisgruppe. "Und wir haben Deutschland vertreten!"

Vorbilder seien die beste Motivation zur Integration, sagt Natalia Wagner, "Druck aufzubauen hat gar keinen Sinn". Heute freut sie sich, wenn sie jemand auf der Straße anspricht. Einem Fremden den Weg erklären - auch das bedeutet zu Hause sein.

JULIAN HANS

Derya Ovali, 24, erklärt türkischen Eltern das deutsche Schulsystem

Derya Ovali, 24 Jahre alt, Studentin der Erziehungswissenschaften, ist ihrem Vater sehr dankbar. "Mach das Abitur", hatte er gesagt, als sie nach zehn Jahren Schule Lust auf etwas anderes hatte. "Und dann studierst du." So hat sie es gemacht. Geboren und aufgewachsen ist Derya in Berlin-Kreuz-berg, ihr Vater war mit 20 Jahren aus der Türkei nach Berlin gekommen. Er ist gelernter Dreher, hat viele Jahre bei Siemens gearbeitet, jetzt betreibt er einen Zeitungskiosk. Seine Kinder sollen es einmal besser haben.

Derya Ovali ist auf einem guten Weg, sie macht viel, für sich und für andere. Sie ist im Vorstand des türkischen Studentenvereins, hat an einer Hauptschule Förderunterricht gegeben, und seit einigen Monaten nimmt sie türkische Väter und Mütter an die Hand - sie ist Elternlotsin an der Hedwig-Dohm-Schule in Berlin, einer Realschule an der drei Viertel der Schüler aus Migrantenfamilien kommen. Viele von ihnen machen ihren Eltern und Lehrern Sorgen.

Um den Schülern zu helfen, geben die Lotsen den Eltern Nachhilfe in Sachen deutsches Schulsystem. Das Projekt hat der Türkische Bund Berlin angeschoben. Vier Lotsen gibt es bis jetzt, sie sollen den Kontakt zwischen Eltern und Lehrern zu verbessern. Die Lehrer schaffen das nicht, weil sie die Eltern nicht erreichen, es keine gemeinsame Sprache gibt. Viele Mütter und Väter kommen nicht zu den Elternabenden. Sie hätten Angst, sich vor dem Lehrer zu blamieren, weil ihr Deutsch so schlecht sei, sagt Ovali. Häufig ist es so schlecht, dass sie Briefe, die die Schule ihnen schickt, gar nicht erst öffnen, sie würden ja sowieso nichts verstehen.Derya Ovali ruft sie an, spricht auf Türkisch mit ihnen, besucht sie zu Hause, übersetzt bei Gesprächen mit Lehrern. Sie erzählt von Eltern, die ihre Töchter und Söhne fördern wollen, aber nicht können, weil sie nicht wissen, wie. Eltern, die davon überzeugt sind, dass ihre Kinder einmal studieren und dann Arzt oder Anwalt werden, aber nicht wissen, dass es dazu mehr braucht als einen Hauptoder Realschulabschluss. Die Lotsin erklärt den Eltern, welche Abschlüsse es in Deutschland gibt, welche Möglichkeiten, das Abitur noch zu machen, auch wenn man nur die Realschule besucht hat, wo ihre Kinder Nachhilfeunterricht bekommen können. Den gibt es auch an der Hedwig-Dohm-Schule, kostenlos sogar, das hatte die Schule den Eltern auch schriftlich mitgeteilt, allerdings auf Deutsch.

Wenn sie Eltern besucht, bekommen die oft leuchtende Augen. "Was, du studierst, du sprichst so gut Deutsch?!" Derya Ovali wird dann zum Vorbild. Es ist nicht nur die Sprache, die ihr die Türen zu den Eltern öffnet, es ist auch die ähnliche Herkunft, das Wissen, wie man miteinander umgeht. Manchmal seien es ganz einfache Dinge, sagt Derya Ovali. Etwa dass man in türkischen Familien nicht gleich zur Sache komme, sondern erst einmal Höflichkeiten austausche, Kekse anbiete. Das schaffe Vertrauen. Dazu gehört auch, dass Briefe, auch wenn sie auf Türkisch sind, oft nicht weiterhelfen, viel wichtiger ist der direkte, persönliche Kontakt.

Nehmen denn die Väter den Rat einer jungen Studentin an? Ja, sagt sie. Auch ihr eigener Vater lässt sich inzwischen von ihr sagen, was gut ist für ihn. Es gibt kein türkisches Fernsehen mehr, er schaut mit seiner Tochter jetzt Sendungen auf Arte: "Damit sein Deutschbesser wird."

ARNFRID SCHENK

Vicente Riesgo, 53, Vorsitzender der spanischen Weiterbildungsakademie

Migration ist bei uns eine Familientradition", sagt Vicente Riesgo. Sein Großvater war nach Kuba ausgewandert, sein Onkel nach Argentinien. Mit 23 Jahren brach auch Riesgo auf. Das war 1976. Sein Philosophie- und Theologiestudium in Madrid hatte er abgeschlossen. In Spanien herrschte Franco. "Ich wollte weg. Das Land bot einem jungen Menschen keine Perspektiven."

In Bonn studierte er Wirtschaft, Politik und Soziologie. Mehr als zwei Jahre lang sprach er kaum ein spanisches Wort und traf sich nur mit Deutschen. "Ich wollte in der neuen Sprache baden und meine Chancen nutzen", sagt Riesgo. An der Uni lernte er auch die Arbeit der Spanischen Elternvereine kennen - und begann sich selbst zu engagieren. In Familienseminaren forderte er die Eltern auf, sich einzumischen. Darauf zu drängen, dass ihre Kinder vormittags in deutsche Schulen gingen - nicht in Nationalklassen, wie sie die Politiker für die Kinder der Gastarbeiter vorgesehen hatten - und nachmittags in ihrer Muttersprache unterrichtet wurden. Er startete Informationskampagnen über Sonderschulen, denn in diese wurden viele Einwandererkinder aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse abgeschoben. Den Eltern versuchte er klarzumachen, dass Migration kein Schicksal ist, sondern auch eine Chance sein kann. Er fragte sie, was sie sich wünschten, und zeigte ihnen, was sie selbst dafür tun konnten. "Es bringt nichts, wenn man Menschen einen Vortrag hält", sagt Vicente Riesgo. "Man muss sie mitmachen lassen. Nur dann funktioniert es!"

Nach fast 30 Jahren beim Bund der Spanischen Elternvereine blickt Riesgo stolz auf die Bildungsarbeit der Spanier zurück. "Pisa hat uns gezeigt, dass wir einen richtigen Weg gefunden haben", sagt er. Denn obwohl nur jedes zehnte Kind mit Migrationshintergrund in Deutschland sein Abi schafft, machen zwei Drittel der Spanier mindestens den Fachhochschulabschluss. Der Erfolg hat auch die Politiker aufmerksam gemacht. Nun soll der Bund der Spanischen Elternvereine in Nordrhein-Westfalen ein Konzept für Migranteneltern aus anderen Nationen entwickeln. Riesgo hat die pädagogische Leitung übernommen. In dem Projekt "Schlaue Kinder starker Eltern" zeigt er türkischen, russischen und ghanaischen Eltern, wie sie sich organisieren können, damit ihre Kinder eine gute Bildung bekommen. Die Eltern sollen später ihr Wissen an andere weitergeben. "Ich bin beeindruckt, mit wie viel Herz und Leidenschaft sich alle einsetzen", sagt Riesgo. Er selbst ist dabei das beste Vorbild.

NELE JUSTUS

© Die ZEIT - Erscheinungsdatum: Donnerstag 14.09.2006