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Stern Nr. 43 vom 26. Oktober 2006, S. 68Neue ArmutSpiel nicht mit den SchmuddelkindernEin Essay von stern-Autor Walter WüllenweberDeutschland ist gespalten. Doch oben oder unten ist nicht nur eine Geldfrage. Bildungsarmut ist das größte Problem der neuen Unterschicht. Mehr Geld bringt keinen sozialen Fortschritt. Bildung schon. Geld haben die Armen in Deutschland genug. Sie haben Spülmaschinen, Mikrowellenherde, die neuesten Handys, DVD-Spieler, meist mehrere Fernseher. Das listen die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes detailliert auf. So viel zum Haben. Hartz-IV-Empfänger verfügen über denselben materiellen Lebensstandard wie Facharbeiter in den 1970er Jahren. Wenn das Haben der Maßstab wäre, die Ausstattung mit Media-Markt-Schnickschnack oder den neuesten Klamotten, wenn nur das monatliche Haushaltseinkommen zählen würde - dann könnten wir uns zufrieden zurücklehnen. Dann wäre die ganze Diskussion über die Unterschicht überflüssig. Aufstieg ist extrem schwerDoch das ist sie nicht.
Die Debatte ist für den deutschen Sozialstaat überlebenswichtig. Denn sie zeigt:
Deutschland ist auf dem Irrweg. Wir leisten uns einen der teuersten
Sozialstaaten der Welt. Das könnte man ertragen. Aber es ist gleichzeitig der
erfolgloseste Sozialstaat. Das ist unerträglich. Seit Jahrzehnten versuchen wir,
Armut und die himmelschreiende Chancenungleichheit mit immer derselben Methode
zu bekämpfen: mit mehr Geld. Heute müssen wir feststellen: Das hat nicht
funktioniert. All die Milliarden hätten genau das verhindern sollen, was nun
dennoch eingetreten ist: Die Menschen aus München-Hasenbergl, aus
Berlin-Neukölln, aus Hamburg-Billstedt, aus den typischen deutschen
Unterschichtsvierteln, finden keine Arbeit mehr. Mehr Sozialknete bringt nichtsDie schlechte
Nachricht lautet also: Mit mehr Sozialknete kann man die Benachteiligung nicht
wirksam bekämpfen. Bekäme jede arme Familie 200 oder 300 Euro mehr Stütze im
Monat, würden sich dadurch ihre Aussichten auf einen Job, auf ein
selbstbestimmtes Leben, auf bessere Aufstiegschancen ihrer Kinder keinen
Millimeter verbessern. Die Erfahrung zeigt: Das würde nur den Umsatz bei
McDonald's erhöhen. Bildung hilftAuch bei uns
funktioniert das Prinzip Bildung. Eines von unzähligen
Beispielen ist eine Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer: 39 Prozent aller
deutschstämmigen Kinder gehen aufs Gymnasium, von den Kindern mit
Migrationshintergrund sind es nur 9 Prozent. Wenn jedoch Ausländerkinder in
einen deutschen Ganztagskindergarten gehen, dann schaffen es auch von ihnen 39
Prozent aufs Gymnasium. Orientierung auf KonsumÜber viele Jahrzehnte haben Politik, Sozialwissenschaft und Medien nicht richtig
hingeschaut, nicht erkannt, wie dramatisch sich der untere Rand der Gesellschaft
verändert. Wir alle haben die Umwälzungen übersehen, weil wir immer nur auf ein
Kriterium geschaut haben: Wer hat wie viel Monatseinkommen? Doch an dieser
Front sind die Verwerfungen nur schwer erkennbar. Die wirkliche Spaltung
ist viel weniger ökonomisch als kulturell. In den vergangenen Jahren hat
die Unterschicht eigene Lebensformen entwickelt, mit eigenen Verhaltensweisen,
eigenen Vorbildern und eigenen Werten: die Unterschichtskultur. Sowohl das
Heidelberger Sozialforschungsinstitut Sinus-Sociovision als auch die aktuelle
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommen zu dem Ergebnis: Arbeit, Leistung,
sich für eine Sache anzustrengen, das rangiert im Wertesystem dieser neuen
Unterschicht ganz hinten. Ganz vorn steht der Konsum. Das Trennende ist also
immer weniger das Haben und immer mehr das Sein. Entscheidend ist der HabitusNiemand zieht weg, weil die Nachbarn nicht genug Geld haben.
Entscheidend sind die Lebensweise, der Habitus, die kulturelle Kluft.
Es entwickelt sich ein neues Bewusstsein für Klasse: ein Klassenbewusstsein.
Du bist, was du isst. Du bist, was du anziehst. Du bist, wo du wohnst. Du bist,
was du glotzt. Du bist, was du liest, wenn du überhaupt liest. Du bist, wie du sprichst,
mit oder ohne Akzent, mit oder ohne Grammatik. Unwort UnterschichtDazu passte der Begriff "Unterschicht" natürlich nicht. Derzeit tobt
in der Politik ein Streit darüber, ob man das U-Wort benutzen darf. Ein Ablenkungsstreit.
So muss man nicht über die wahren Probleme der Unterschicht und damit über das
Versagen der Politik reden. Auch weil es kein politisch korrektes Wort für die
Unterschicht gab, wurde über sie nichts ausgesprochen. Gegeben hat es sie dennoch. Die Besten müssen nach NeuköllnKeine Gesellschaft und keine Volkswirtschaft kann es sich leisten,
zehn Prozent oder mehr ihrer Bevölkerung abzuschreiben und mit durchzufüttern.
Die USA reagieren darauf, indem sie neue Gefängnisse bauen für die Wütenden.
Das ist am Ende vermutlich die teuerste Lösung. Unser Weg kann nur
"sozialer Fortschritt" sein. Das heißt nicht, mehr Sozialknete.
Wir müssen bereit sein, die Strukturen der staatlichen Institutionen
denen anzupassen, die den Staat am dringendsten brauchen: der Unterschicht. © Stern - Erscheinungsdatum: Donnerstag 26.10.2006 |