Interview in der SÜDWEST PRESSE vom 1. August 2006
INTERVIEW: Spitze im Scheitern
Das Sitzenbleiben sollte
abgeschafft werden, sagt der Bielefelder Bildungsforscher Professor
Klaus-Jürgen Tillmann, denn es verletzt und verunsichert die Schüler nur.
Sie bräuchten meist zur Mitte des Schuljahres dringend Hilfe - statt am
Ende ein "Nicht versetzt".
Klaus-Jürgen Tillmann: Schwachen Schülern muss
rechtzeitig geholfen werden.
Herr
Professor Tillmann, Sie sind ein Gegner des Sitzenbleibens. Was stört sie
am meisten daran? KLAUS-JÜRGEN TILLMANN: Dass es den Schülern
nichts bringt. Es verletzt, demütigt und verunsichert sie nur. Angeblich
sollen Sitzenbleiber durch das Wiederholen gefördert werden und wieder
Anschluss finden. Doch das trifft nicht zu. Hier gibt es aussagekräftige
Studien: Man hat Schüler mit den gleichen Leistungsschwächen in zwei
Gruppen geteilt. Die eine Gruppe wiederholte das Schuljahr, die andere
rückte weiter. Nach einem Jahr zeigten die versetzten Schüler deutlich
bessere Leistungen als die Wiederholer, die sich gelangweilt und
abgeschaltet hatten. Blenden
Sie dabei nicht aus, dass schlechte Schüler Lücken haben, die sie
schließen müssen? TILLMANN: Das ist von Fach zu Fach
unterschiedlich. In Mathematik mag das zutreffen, in Deutsch, wo die
Themen wechseln, eher nicht. Außerdem sollten wir uns nichts vormachen:
Der eine Englisch- oder Französischlehrer gibt für eine bestimmte Leistung
die Note 5, der andere noch eine 4. Er bewertet damit die Lücke weniger
dramatisch. Bisher ist durch nichts nachgewiesen, dass Lücken beim
Wiederholen geschlossen werden. Bundesbildungsministerin
Schavan meint, es müsse ein letztes Sanktionsmittel für Lehrer
geben. TILLMANN: Die höchste Sitzenbleiberquote haben wir in
der Pubertät, in einem Alter also, in dem sich die Schüler von Autoritäten
absetzen. Dabei muten sie ihren Lehrern sicher einiges zu. Wer aber
glaubt, hier Autorität mit Maßnahmen wie dem Sitzenbleiben herstellen zu
können, verkennt den Erziehungsauftrag der Schule. Denn gerade schwierige
Schüler brauchen Zuwendung und Unterstützung. Mancher
argumentiert, das Sitzenbleiben sei auch eine Chance, neu durchzustarten
und zu reifen. TILLMANN: Es gibt Situationen, in denen das
freiwillige Wiederholen sinnvoll ist, etwa, wenn ein Kind lange krank war.
Aber der zwangsweise Rausschmiss aus der Klasse dürfte wohl kaum als
Chance empfunden werden. Was belastet
Sitzenbleiber? TILLMANN: Ihre soziale Position in der neuen
Klasse ist meist nicht besonders gut. Das Selbstwertgefühl leidet
erheblich, man traut sich noch weniger zu als bisher. Sitzenbleiber
konzentrieren sich vor allem darauf, sich in der neuen Klasse zu
behaupten. Weiterer Stress entsteht durch die Reaktionen in der Familie.
Kurz: Es gibt keine positiven Effekte des Sitzenbleibens, aber eine
Vielzahl pädagogischer Nachteile. Deshalb empfehle ich, es abzuschaffen.
Sie lassen also die schlechten Schüler weiterrücken in der
Hoffnung, dass sie sich bessern? TILLMANN: Nein, ich muss
ihnen rechtzeitig helfen. In der Mitte, nicht am Ende des Schuljahres
sollte gehandelt werden. Wenn sich abzeichnet, wer nicht mithalten kann,
muss die Schule für diese Kinder zusätzlich zum Unterricht verpflichtende
Förderkurse anbieten. Es sollte endlich Schluss damit sein, dass unser
Schulsystem mehr Abstieg als Aufstieg produziert. Wie kommen
Sie zu dieser Einschätzung? TILLMANN: Die Pisa-Daten zeigen:
Wenn wir addieren, wie viele 15-Jährige schulisches Versagen erlebt haben
- das Zurückstellen vom ersten Schulbesuch, die Überweisung in
Sonderschulen, das Zurückstufen in die Real- oder Hauptschule sowie das
Sitzenbleiben -, kommen wir bundesweit auf die unglaubliche Zahl von 40
Prozent. Wir produzieren in einem Maße Schulversagen, das international
absolute Spitze ist. Es ist unsinnig zu glauben, dass so viel Scheitern
junge Menschen zum Lernen motiviert.
Erscheinungsdatum: Dienstag 01.08.2006 Quelle:
http://www.suedwest-aktiv.de/
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