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Die ZEIT Nr. 5 vom 25. Januar 2007, S. 57

Deutschtürken, kämpft selbst für eure Integration!

Wir müssen unsere Interessen als Bürger dieses Landes wahrnehmen. Die Chancen stehen besser denn je.

von Birand Bingül

Meines Vaters Traum – und der seiner Generation, egal ob Arzt oder Arbeiter, egal ob Istanbuler oder Anatole, egal ob gebildet oder nicht –, der Traum bestand aus einem einzigen Wunsch: Er wollte ein besseres Leben, in Deutschland, durch Deutschland; für sich, für seine Frau, für seine Kinder.

1968 war mein Vater aus der Türkei gekommen, ein Arzt aus Istanbul in Wickede an der Ruhr. Dort wurde ich vor 32 Jahren geboren, ein Deutschtürke der zweiten Generation. Dass ich jetzt, im Jahr 2007, einen Artikel über die jahrzehntealten Gastarbeiterwünsche meiner Eltern schreibe, verrät es schon: Der türkische Traum in Deutschland ist nicht vollendet.

Natürlich sind viele von uns besser integriert, als die öffentliche und veröffentlichte Meinung weismachen will. Sie machen ihren Weg in Deutschland – allerdings jammern wohl ebenso viele über die bösen Deutschen und wählen die Opferrolle des Ausgegrenzten, ein vergebliches Unterfangen.

Kämpft, Deutschtürken! Kämpft selbst für bessere Integration – nicht um den Deutschen zu gefallen, sondern zu eurem eigenen Wohl.

Die Zeit dafür ist günstig. Wir leben in einer historischen Phase der Integration in Deutschland. Erstmals versuchen die Bundesregierung und Länder wie Nordrhein-Westfalen, eine echte und praktikable Integrationspolitik umzusetzen; herausragendes Beispiel ist wohl die Finanzierung flächendeckender Sprachtests für vierjährige Kinder in Nordrhein-Westfalen – plus umfangreicher Sprachförderung im Anschluss. Der Aktionsplan dieses Bundeslandes dürfte wegweisend für den Nationalen Integrationsplan sein, der bis zum Sommer entwickelt werden soll. Keine ignorante Nichtpolitik mehr wie zur Gastarbeiterzeit, keine arrogante »Danke und tschüss«-Politik per Abfindung à la Helmut Kohl, keine idealistische Integrationspolitik, mit der Rot-Grün zwar einiges in den Köpfen, aber wenig in der Lebenswirklichkeit änderte.

Welche fairen Chancen bekomme ich? Wie lebe ich? Und fühle ich mich dazugehörig? Auch: Wie viel Geld habe ich im Portemonnaie? Für mich sind das die Kernfragen der Integration heute. Kulturelle und religiöse Aspekte halte ich für überschätzt – übrigens auf beiden Seiten.

Die strukturelle Benachteiligung von uns Deutschtürken tritt in Deutschland noch immer allenthalben zutage: Als Bürger dieses Landes ärgert es mich, von Vermietern zu hören, dass sie per se nicht an uns vermieten – ich habe es persönlich erlebt.

»Prima, Treffen um 16 Uhr. Wie war noch mal Ihr Name?«
»Bingül.«
»Ach, interessant… Woher kommt der denn?«
»Meine Eltern sind aus der Türkei.«
»Oh, tut mir leid, die Vermieter möchten keine Türken. Nichts für ungut…«

Als Fernsehjournalist finde ich es erschreckend, dass die 1,8 Millionen Türken ohne deutschen Pass nicht bei der Erhebung der Quoten berücksichtigt werden. Sie sind Luft. Ihr Fernsehgeschmack, ihre Sehbedürfnisse bleiben außen vor.

Gemäß einer OECD-Studie besuchen deutschtürkische Kinder, unabhängig von ihrem Potenzial, schlechtere Schulen als deutsche. Es ist skandalös, dass laut Internationaler Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu-Studie) des Internationalen Verbandes für Bildungsforschung Ausländerkinder bei gleicher Leistung schlechtere Noten als deutsche bekommen. Seit Pisa wissen wir, dass das deutsche Schulsystem Kinder mit Einwanderungshintergrund so benachteiligt wie kaum ein anderes getestetes Land. In Deutschland 2007 existiert eine ethnische Bildungsschere, auch nach der Schulzeit. So ist erwiesen, dass bei gleichen Fachleistungen die Chancen eines deutschtürkischen Jugendlichen auf eine Berufsausbildung gerade einmal halb so groß sind wie die eines deutschen.

Deutschland ist nicht perfekt. Aber wir Deutschtürken wären alle miteinander nicht hier, wenn in der Türkei alles perfekt wäre – oder auch nur besser. Was mich deshalb noch wütender macht als all die Ungerechtigkeiten, ist die Reaktion allzu vieler Deutschtürken darauf: Weite Teile der ersten Generation ziehen sich zurück und resignieren. Nicht nur in den türkischen Teestuben hört man immer noch die alten pauschalen Schuldzuweisungen: »Bunlarn hepsi Nazi«, das sind doch eh alles Nazis. Türken und Deutsche haben eine zwanghafte Vorliebe für Schuldfragen. Zwei Völker von Gefühlshistorikern, das macht es nicht leicht.

Extreme Nachwirkungen haben deshalb die rechtsextremen Attacken von Hoyerswerda und Mölln, vor allem von Solingen. Am 29. Mai 1993 steckten dort vier junge Männer aus Ausländerhass das Haus der Familie Genç an. Fünf Menschen starben in den Flammen.

Wir lebten nicht weit von Solingen. Ich war keine 18 und war mir immer ziemlich normal vorgekommen: Ich ging auf eine normale deutsche Schule, war im deutschen Sportverein, hatte eine deutsche Freundin. Doch auf einmal war ich zuallererst Türke. Ich bekam panische Angst, dass durch unsere Glastür ein Molotowcocktail fliegen könnte. Ich fing an, bei jeder Gelegenheit die Tür im Auge zu behalten. Ich hörte meine Eltern jeden Abend über eine Rückkehr in die Türkei sprechen. Der Schreck – ja die Todesangst – steckt vielen Deutschtürken bis heute in den Knochen und hat die Erziehung der heutigen Jugendlichen mitgeprägt.

So verstehe ich den Frust und die Verletzungen vieler in unserer Elterngeneration. Ich kann nachempfinden, dass Migration, wie sie die meisten Deutschtürken meiner Elterngeneration erlebt haben, krank machen kann. Mindestens 60 Prozent von ihnen sollen einer Studie zufolge an Heimweh, Angstzuständen und Depressionen leiden, obwohl sie seit Jahrzehnten hier leben. Ausgerechnet der Strukturwandel in Deutschland hat viele abgehängt und arbeitslos gemacht: Fast alle Gastarbeiter waren »Unterschicht«, als sie nach Deutschland kamen, und zwar türkische Unterschicht aus dem Anatolien der sechziger Jahre. Arbeiter, Dorfbauern und Ungelernte. Sie wollte Almanya haben, Hauptsache, kräftig und gesund! Es störte nur wenige von ihnen, schlecht ausgebildet zu bleiben. Das Wirtschaftswunderland bot ihnen zunächst dennoch Arbeit.

Heute werden die deutschtürkischen Communitys durch Digitalisierung und Globalisierung für ihre Bildungsferne bestraft. Die Arbeitslosigkeit unter Deutschtürken ist auf 25 Prozent gestiegen. Mit anderen Worten: Viele Deutschtürken leben im Prekariat. Und sie wissen es.

Inzwischen meinen etliche der jungen Männer der zweiten und dritten Generation von Deutschtürken auch zu wissen, dass sie nicht nur heute, sondern auf immer und ewig Verlierer sein werden, »Loser«, »Opfer«. Ihre Reaktion? Sie geben bewusst den türkischen Macho; etwa indem sie die Autorität von Lehrerinnen nicht anerkennen. Diese Machokultur geht weit über das Zwischengeschlechtliche hinaus ins Gesellschaftspolitische, nach dem Motto: Wenn ihr mich als »Ausländerproblem« stigmatisiert, dann wehre ich mich nicht, sondern übersteigere die mir zugewiesene Rolle. Trotz-Identität nennen das Soziologen. So geprägte Jungs können ihren Mitschülern und ihren Lehrern – und auch ihrer Familie! – das Leben zur Hölle machen. Hinter der gespielten Stärke versteckt sich erlebte Schwäche. Jeder zweite 15-jährige Deutschtürke besucht die Hauptschule. Jeder fünfte schafft keinen Abschluss. Jeder dritte zwischen 25 und 35 Jahren hat keine Ausbildung. Das sind die Zahlen. Dahinter stecken Schicksale von Hunderttausenden. Sie sind Erklärungen für schlechtes Benehmen, Asi-Kultur und Gewalt. Sie können aber keine Entschuldigung dafür sein.

Es liegt an uns Deutschtürken selbst, unsere Integration zu gestalten – und da liegt die Verantwortung vor allem bei den erfolgreichen Deutschtürken in der zweiten Generation, auf Frauen und Männern zwischen 25 und 50, die ihren Weg in Deutschland gemacht haben. Als Brückengeneration ist die zweite Generation von Deutschtürken am besten integriert, hat aber noch starke Bindungen an und in die Türkei. Sie hat die Möglichkeit, in beide Richtungen zu wirken. Etliche Mitglieder dieser Generation sind handlungs- und durchsetzungsfähig. Zuerst wurde das, wie häufig bei Minderheiten, in der Kultur und im Sport deutlich: Schriftsteller Feridun Zaimog(lu, Regisseur Fatih Akn, Hitproduzent Mustafa Gündog (du alias Mousse T. (Horny, Sex Bomb), Viva-Moderatorin Gülcan Karahanc, die Profifußballer Yldray Bas,türk, Nuri S,ahin sowie Halil und Hamit Altntop. In der Wirtschaft setzen sich neben Großunternehmern wie Vural Öger (Öger Tours) und Kemal S,ahin (S,ahinler Holding) neue Leute durch: Turan S,ahin ist im Vorstand von Siemens Tschechien, Ali Aslan seit Kurzem Politik- und Medienberater im Bundesinnenministerium. In der Politik gibt es nicht mehr nur Cem Özdemir von den Grünen. In Wissenschaft und Gesellschaft sind vor allem Frauen in den Vordergrund getreten: die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates,; Yasemin Karakas,og(lu, die an der Universität Bremen als Professorin Interkulturelle Pädagogik lehrt, die Buchautorin Necla Kelek (Die fremde Braut) sowie Sanem Kleff, Projektleiterin von »Schule ohne Rassismus«.

Integration ist kein Beliebtheitswettbewerb. Martin Luther King jr., der Anführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, hat einmal gesagt: »Integration ist sinnlos ohne Teilhabe an der Macht. Wenn ich von Integration spreche, dann meine ich keine romantische Mischung der Rassen, sondern eine wirkliche Aufteilung von Macht und Verantwortung.« Es ist verblüffend, wie aktuell – und wie richtig! – dieser Satz aus den sechziger Jahren ist. Der Weg heißt: Wille zum Einmischen, Wille zum Mitmachen, Wille zur Teilhabe.

Zunächst brauchen wir Deutschtürken dafür als Gemeinschaft ein neues Selbstbewusstsein. Kein nationales oder religiöses, sondern eines, das aus der eigenen Leistung heraus Würde bezieht. Nur das Streben, das Beste aus sich und seinem Leben zu machen – egal, auf welchem Niveau, jeder für sich ganz persönlich –, nur dies bringt mehr Selbstachtung.

Das größte Hindernis auf dem Weg dorthin ist, dass die Deutschtürken in zahlreiche Gruppen zersplittert sind: Städter und Dörfler. Kurden, Armenier und Aramäer. Sozialdemokraten und Nationalisten. Kulturmuslime, fromme Muslime, konservative Muslime, Aleviten und Atheisten. Arbeiter-Türken, Akademiker-Türken, Business-Türken und Big-Business-Türken. Es gibt nicht eine, es gibt viele deutschtürkische Communitys. Rund um diese sehr unterschiedlichen Interessen haben sich Vereine und Verbände gegründet. Sie produzieren verschiedenste, zum Teil widersprüchliche Forderungen an Deutschland. Je mehr Forderungen, desto weniger politische Schlagkraft.

Um vollen Einfluss zu entwickeln, müssen sich diese Communitys auf begrenzte Zeit zu einem Bündnis, nennen wir es »Aktionsbündnis Integration«, zusammenschließen und sich auf eine kurze Agenda einigen, die allein dem alltäglichen Wohl der Menschen verpflichtet ist. Alle sonstigen Interessen würden für diese Zeit auf Eis gelegt. Das Bündnis benennt und bekämpft die großen strukturellen Benachteiligungen und drängt auf wirkliche Teilhabe am deutschen System, im Sinne Martin Luther Kings. Nach innen aktiviert das Bündnis den Willen zur Teilhabe und motiviert die Deutschtürken, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Die Schlüssel sind Bildung, Arbeit und Bewusstsein. Sich mit anderen Minderheiten zu vernetzen ist naheliegend.

Das Bündnis ruft gezielt Kampagnen gegen strukturelle Benachteiligungen ins Leben, etwa im Bildungs- und Arbeitssektor. Es muss ein gemeinsames, erreichbares Ziel geben.

Das Bündnis kämpft für ein Wahlrecht auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene für alle, die in Deutschland geboren sind oder länger als 15 Jahre hier leben – unabhängig vom Pass.

Die Deutschtürken ziehen sich heraus aus den machtlosen Integrationsräten und drängen stattdessen in die Mitte von Parteien und Politik. Nur dort ist wirkliche Teilhabe möglich.

Das Bündnis stellt ausschließlich Persönlichkeiten in den Vordergrund, die auf beiden Seiten glaubwürdig sind und es verstehen, im politisch-medialen Raum überzeugend aufzutreten.

Nach innen organisiert das Bündnis eine Aktion »Runter von der Straße! Raus aus den Teestuben! Ran an die Schulen!« zum Wohl der Kinder. Die Deutschtürken müssen mit ihrem Engagement die Schulen und ihren Nachwuchs regelrecht belagern. Deutschtürken für Deutschtürken, zum Beispiel durch freiwillige Nachhilfe. Das Bündnis unterstützt jedes Elternpaar, das für die Bildungschancen seiner Kinder kämpft. Passivität wird geächtet.

Das Bündnis setzt sich für die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein. Und dafür, nicht weiter eine längst vergangene Türkei in manchen deutschen Stadtvierteln oder Straßenzügen zu konservieren. Selbst die Türken in der Türkei spotten darüber!

Die erste Generation der Deutschtürken hat bereits eine Menge geleistet. Ist es für die zweite und dritte Generation nicht eine Frage der Ehre, ihren deutschen Traum vom besseren Leben in Freiheit, Wohlstand und Glück so weit zu tragen, wie sie nur kann? Es braucht etwas Mut zur Veränderung. Aber es wird sich für jeden lohnen.

    Birand Bingül, 32, arbeitet als Redakteur beim WDR in Köln für das einzige integrationspolitische Fernsehmagazin in Deutschland, »Cosmo TV«. Er ist der erste türkischstämmige Kommentator der »Tagesthemen«. In Washington, am Rande einer Kongressanhörung über Migration und Muslime in Europa, kam ZEIT-Redakteur Jörg Lau vor einigen Monaten mit Bingül ins Gespräch. Bingüls Ansichten und Thesen über die Rolle der Türken in Deutschland fand Lau so interessant, dass er ihn ermunterte, sie aufzuschreiben. Das Resultat ist hier zu lesen.


© Die ZEIT - Erscheinungsdatum: Donnerstag, 25.01.2007