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Guten Abend, meine Damen und Herren.
Sie hätten sich für diesen Vortrag über die Türkei keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können.
Täglich erreichen uns neue Nachrichten: Prozesse, Verhaftungen, Putschgerüchte.
Die Lage ist unklar, verworren, vielleicht sogar gefährlich.
Alle Kräfte werden zurzeit für den Streit verbraucht, und der Reform-Elan entsprechend
ist erlahmt. Die alten Konflikte sind in neuer Härte ausgebrochen.
Das Land ist tief gespalten. Wer kämpft da gegen wen? Wo verlaufen die Fronten?
Was für Fronten sind das? Was für eine Geschichte haben diese Fronten?
Und was hat das alles mit den Menschen zu tun, mit den Bürgern der Türkei?
Mit diesen Fragen möchte ich mich heute Abend befassen. Ich will versuchen,
in meinen Antworten etwas grundsätzlicher zu werden. Ich möchte mit den Menschen beginnen.
Erinnern Sie sich noch an den 25. Juni? An diesem Tag standen sich die Türkei und Deutschland
im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft gegenüber. Die türkische Nationalelf schlug
sich erfolgreich, aber nicht siegreich. Die deutsche Mannschaft erzielte ihr entscheidendes
Tor ausgerechnet auf die türkische Tour, im buchstäblich letzten Moment.
Dennoch war dieser 25. Juni für die meisten Türken ein schöner Tag.
Die Leute feierten ihre Fußballer gelöst und glücklich. Sie freuten sich, sie
schenkten ihre Fahnen, so wie auch dies die Bürger in anderen europäischen Ländern tun.
Die Freude hatte etwas Spielerisches, etwas Leichtes. Da war nichts verbissen
Nationalistisches. Da war keine beleidigte Enttäuschung.
Man sollte diese Reaktionen nicht unterbewerten. Die Fußball-Freude wirft ein
Schlaglicht auf die wichtigen und nachhaltigen Veränderungen in der Türkei.
Diese Veränderungen übersieht man leicht angesichts der anderen Ereignisse in diesen Zeiten.
Diese Veränderungen illustrieren auch, was einem in der Türkei so oft gesagt wird.
"Die Menschen sind weiter als das System!" Diesen Satz habe ich schon sehr oft gehört -
in verschiedenen Varianten: Die Menschen sind weiter als das System! Die Menschen sind
weiter als die Elite! Die Menschen sind weiter als der sogenannte tiefe Staat.
Derin Devlet. Dieser Begriff fällt immer dann, wenn von den politischen Beharrungskräften
gesprochen wird: von dem unerklärten, aber wirkungsmächtigen Bündnis aus Bürokratie,
Justiz, Hochschulwesen und Militär, von allen also, die sich für die Prinzipien des
Staatsgründers Kemal Atatürk zuständig fühlen.
Die Menschen sind weiter als dieser Apparat? Was heißt das?
Wer sich die Bilder vom Fußball-Jubel anschaut und die vielen jungen Gesichter sieht,
der ahnt, wie ein Teil dieser Antwort lauten könnte: Gut siebzig Prozent der Türken
sind unter 35 Jahre alt. Das heißt: die überwiegende Mehrheit ist jung. Das heißt zugleich:
die meisten Bürger des Landes haben den letzten richtigen Militärstreich von 1980 allenfalls
als Kind erlebt, viele nicht einmal das. Sie wissen nicht viel über diesen Putsch.
In der Türkei spricht man nicht über düstere Kapitel der Geschichte, das gilt ganz allgemein.
Und schon gar nicht sprechen Eltern mit ihren Kindern gern über Politik.
Die prägenden Jugendjahre der Nachgeborenen sind andere Zeiten gewesen und sie
sind es noch - Zeiten eines dynamischen Wirtschafts-Aufschwungs, Zeiten eines kreativen,
geradezu stürmischen Aufbruchs in der Kultur, Zeiten der politischen Öffnung, also
Zeiten eines verheißungsvollen Umbruchs. Einen Militärputsch - mit Panzern, Soldaten,
Ausgangssperre, womöglich mit einem abendlichen Disco-Verbot - können sich die jungen
Leute nicht vorstellen.
Im Moment freilich ist es gar nicht so einfach, die typische Aufbruchsstimmung
der vergangenen Jahre zu spüren. Ich würde sagen: Der Wille zum Aufbruch, der Wille
zur Veränderung und zur Reform, zu Demokratisierung und Pluralisierung ist nach wie vor da -
unter den Bürgern. Aber die Hoffnung ist gedämpft. Und das Potenzial für den Aufbruch
verbirgt sich, weil auf der politischen Bühne so vieles drunter und drüber geht.
Im Mai habe ich Interviews in Istanbul gemacht. Dieselben Leute, die noch vor einem Jahr
voller Tatendrang gewesen sind und zivilgesellschaftliche Projekte von gehöriger
politischer Tragweite vorangetrieben haben, ohne Furcht vor Tabuthemen - diese selben
Leute agieren jetzt abwartend. Sie sind verhalten, vorsichtig, skeptisch.
Sie gestalten nicht im großen Bogen, sondern beschränken sich auf Kleinarbeit.
Sie verwalten den Status Quo. Man könnte auch sagen: die Leute laufen auf der Stelle,
so wie Sportler, die jetzt keinen Sprint hinlegen, sich aber warm halten wollen,
um bei nächster Gelegenheit durchzustarten.
Diese Vorsicht hat etwas mit den Ereignissen zu tun, die sich überstürzen.
Allein im ersten Halbjahr hätten man sich bereits sechs Termine im Kalender rot
anstreichen können - mit Ausrufezeichen. Und keiner dieser Termine ist so erfreulich
wie der 25. Juni, der Tag des deutsch-türkischen Halbfinales. Ich will kurz zurückblättern.
Am 10. Februar hob das Parlament mit den Stimmen der konservativ-islamischen
Regierungs-Partei AKP und der rechts-nationalistischen MHP das Kopftuchverbot an den
Universitäten auf. Ihre Mehrheit reichte aus, um die Verfassung an zwei Stellen zu
ergänzen - zum einen im Sinne der ausdrücklichen Gleichbehandlung bei der Inanspruchnahme
staatlicher Leistung und zum andren im Sinne einer Gleichbehandlung beim Recht auf
Hochschulbildung. Die CHP, also jene Partei, die sich in Atatürks laizistisch-modernistischer
Tradition sieht, und die kleine DSP stimmten gegen die Verfassungsänderung.
Am 27. Februar - und somit noch im selben Monat - reichten die CHP und die DSP
Klage gegen die Abschaffung des Kopftuchverbots beim Verfassungsgericht ein.
Es verstößt ihrer Ansicht nach gegen die laizistischen Grundsätze der Türkischen
Republik, wonach in staatlichen Gebäuden keine religiösen Symbole zur Schau gestellt
werden dürfen. Das Kopftuch ist überall dort verboten, wo es um Macht, Repräsentation
und Öffentlichkeit geht - also auch im Parlament oder im Gericht. Dabei tragen sechzig
Prozent aller Türkinnen Kopftuch (Tesev-Studie) - ob nun das traditionelle bäuerliche,
das städtisch kleinbürgerliche, das elegant mondäne oder eben doch das gefürchtete
politisch muslimische, den Türban.
Am 14. März legte Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya dem Verfassungsgericht
einen Verbotsantrag gegen die AKP vor. Die Partei verstoße gegen die laizistische
Ordnung des Staates. Sie sei das "Zentrum der anti-laizistischen Aktivitäten".
Die Partei nutze die Demokratie, um die Scharia einzuführen. Für Ministerpräsident
Erdogan und 70 weitere ranghohe Parteimitglieder wird ein fünfjähriges politisches
Betätigungsverbot gefordert. Yalcinkaya hatte 2007 bereits einen Verbotsantrag
gegen die kurdische Partei DTP verlangt. In keinem anderen Land sind bereits so
viele Parteien verboten worden wie in der Türkei: um die zwanzig. Die Parteien
in der Türkei haben keine Geschichte, keine Tradition, kein gewachsenes Parteiprogramm,
schon gar nicht haben sie eine innere demokratische Kultur.
Am 1. Mai schlugen Polizisten die Mai-Demonstration nieder. Arbeiter und Gewerkschafter
wollten an den blutigen 1. Mai von 1977 erinnern. Damals hatten staatliche Einsatzkräfte
die Demo auf dem Istanbuler Taksim-Platz brutal niedergeschlagen. Über 30 Leute wurden
getötet. Es gab viele Verletzte. Auch dieses Mal hat es viele Verletzte gegeben.
Ich war am 1. Mai in Beyoglu und habe es gesehen: Die Stadt war wie belagert von Polizei.
Wasserwerfer, Tränengas, Knüppel. Der maßlose Einsatz von 30 bis 40 000 Polizisten aus
dem ganzen Land sorgte für ein verheerendes Presseecho, aber er hatte keine nennenswerten
Konsequenzen.
Am 5. Juni erklärte das Verfassungsgericht das Kopftuchgesetz für unzulässig.
Beobachter werteten das als Präjudiz für den Verbotsantrag. Neun Richter votierten dafür,
die Freigabe des Kopftuchs aufzuheben, zwei Richter stimmten dagegen. Ein Gutachter des
Gerichts hatte empfohlen, es bei der neuen Regelung zu belassen. Erdogan erklärte im Parlament:
"Wer den Willen des Parlaments blockiert, der stellt sich gegen den Willen des Volks."
Auch in diesem Monat muss man sich weitere Termine rot im Kalender anstreichen -
mit Ausrufezeichen. Am 1. Juli begann vor dem Verfassungsgericht das Verfahren zu dem
Verbotsantrag. Zunächst mit dem Plädoyer des Generalstaatsanwalts Yalcinkaya.
Am 3. Juli wurden die Vertreter der AKP vor Gericht angehört. Es gab wieder Verhaftungen
von nationalistischen Regierungsgegnern. Es gab Putschgerüchte. Und es ist wahrscheinlich,
dass man sich sehr bald einen Verbotstermin rot anstreichen darf - und nach der Sommerpause
den Termin für die Neugründung einer islamisch geprägten Partei und auch für Neuwahlen.
Sie sehen: Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. So geht das jetzt seit über einem Jahr.
Die beschleunigte Entwicklung nahm am 19. Januar 2007 ihren sichtbaren Anfang.
Das war der Tag, an dem der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink ermordet wurde.
Es war ein Freitag. Ein schwarzer Tag für das Land. Dink wurde von einem 17-Jährigen am
helllichten Tag auf offener Straße erschossen - direkt vor dem Redaktionsgebäude seiner
Wochenzeitung "Agos" im Zentrum von Istanbul. Der mutmaßliche Mörder wurde rasch festgenommen.
Der Prozess gegen ihn und weitere mutmaßliche Anstifter und Mittäter läuft noch immer.
Unter den Angeklagten ist auch ein 26-jähriger Student mit Verbindungen ins nationalistische
Milieu. Er hat auch Kontakte zum staatlichen Apparat.
Hrant Dink ist eine DER Symbolfiguren des Wandels. Der Armenier definierte sich bewusst
als türkischer Staatsbürger, aber nicht als Türke. Hrant Dink trat für die Aufarbeitung
der Vergangenheit ein. Er trat somit auch für die Aufarbeitung der Verbrechen von 1915,
der Massenvertreibung und Massentötung der Armenier in der Zeit der Jungtürken - in der
Endphase des Osmanischen Reichs. Das schrieb er auch in seine Artikel. Deshalb hatte er
auch immer wieder Prozesse am Hals. Er wurde unter anderem wegen "Herabwürdigung des
Türkentums" verklagt. Der berüchtigt-berühmte Paragraph 301 aus dem Strafgesetzbuch
wurde gegen ihn immer wieder angewandt.
Ich habe Hrant Dink mehrfach interviewt. Deshalb weiß ich, was an seiner Art so
außergewöhnlich war - so wirkungsvoll einerseits, so gefährlich in den Augen der Gegner
andererseits. Hrant Dink klagte nicht an. Aber er verschleierte auch nichts. Er suchte mit
Charme und Courage das Gespräch. Er tat dies so geduldig wie beharrlich. Er hatte dabei
etwas von einem Psychoanalytiker. Den Menschen zuhören; sich herantasten an vergessenes,
verdrängtes und verleugnetes Leid; gemeinsam lernen, die Wahrheit auszuhalten - nur auf
diese Weise würde das Land die inner-gesellschaftliche Versöhnung und somit die politische
Reife erreichen. Das war seine Überzeugung.
Hrant Dink wollte, dass die Menschen die Geschichte gemeinsam verarbeiten, dass sie die
Geschichte und deren Folgen gemeinsam überwinden. Er wollte, dass sie anfangen, die
Einheitsideologie in Frage zu stellen. Sie sollten erkennen, dass genau diese
Einheitsideologie auf Ausgrenzung basiert und zu Ende gedacht bis hin zur Vernichtung
führen kann. Er aber wollte ein Miteinander in Vielfalt. Er wollte ein Land, in dem
Mehrheit und Minderheiten gemeinsam leben können - als türkische Staatsbürger
unterschiedlicher Abstammung.
Dass viele Bürger auf diesen Wandel hoffen, zeigte der schier endlose Trauermarsch
für Hrant Dink. Hunderttausend Menschen beteiligten sich. Der Zug war eine Demonstration.
Das Volk ist seither viel auf den Beinen gewesen. In großen Demonstrationen - auch
gegen die Präsidentschaftskandidatur des AKP-Kandidaten Abdullah Gül. Aber anders als
vielleicht so mancher Organisator dieser Demos das formulieren würde, postulierte das
Volk oft genug: "Nein zur Scharia, Nein zum Putsch, Ja zur Demokratie!"
Es geht um Grundsätzliches, um das System - so könnte man den Kulturkampf, der die
Türkei erschüttert, umschreiben. Wir kommen zum Kern der Sache, die wir bisher vorsichtig
umschlichen haben. Wer kämpft da mit wem? Wer gegen wen? Untersuchen wir die Fronten.
Auf den ersten Blick sieht es so aus: Auf der einen Seite kämpft das laizistische,
traditionell dem westlichen Lebensstil und dem Fortschritt verpflichtete Lager um die
Deutungshoheit in der Türkei. Und auf der anderen Seite kämpft das religiöse,
islamisch-konservative Lager.
Zugespitzt formuliert: Der Machtkampf sieht aus wie ein Konflikt von Laizisten und
Islamisten. Vor allem die Laizisten sind interessiert daran, den Machtkampf in diesem
Lichte erscheinen zu lassen. Doch der Eindruck täuscht. Dieser Eindruck lenkt nämlich
vom eigentlichen Konflikt ab, den man tief greifenden Identitätskonflikt beschreiben könnte:
Hat der Staat das Sagen in dem Land? Ist also der Apparat der Souverän? Oder haben die
Bürger das Sagen, das Volk, das ein anderes ist als es der Staatsapparat mit seinen
Bekenntnissen zum Türkentum postuliert?
In diesem Kampf um Macht und Deutungshoheit mischen mehrere Kräfte mit. Beteiligt sind
das kemalisitsche Lager und das islamische Lager. Beteiligt ist auch das kurdische Lager.
Beteiligt ist zudem ein städtisch-liberales Lager.
Kein Lager ist in sich homogen. Es gibt Überschneidungen, es gibt hier und da
Interessengemeinschaften - etwa zwischen den fortschrittlich-islamischen Kreisen
innerhalb der AKP und den Liberalen oder auch zwischen der AKP und der kleinen
kurdischen Zivilgesellschaft, die sich von der PKK zu emanzipieren versucht.
Moderate Kräfte gibt es in allen Lagern. Aber je schwieriger und unübersichtlicher
die Lage wird, desto lauter führen die Hardliner das Wort. Desto entschlossener sorgen
sie dafür, dass die Dinge weiter eskalieren und die Ängste zunehmen. Jedes Lager misstraut
dem anderen. Jedes Lager unterstellt dem nächsten, rücksichtslos die eigenen Interessen
durchzusetzen.
Das islamische Lager nimmt den Kemalisten nicht die Angst vor einer Iranisierung,
der heimlichen Agenda der Islamisierung - und die Kemalisten wiederum wollen sich diese
Angst auch gar nicht abkaufen lassen. Das kemalistische Lager kann den Muslimen nicht
die Angst nehmen, die Religion wieder aus dem öffentlichen Leben zu eliminieren -
und die Muslime auf der anderen Seite wollen sich diese Angst auch gar nicht nehmen lassen.
All diese Ängste mögen von Fall zu Fall berechtigt sein. Sie haben aber auch System.
Denn die Strategie der Kompromisslosigkeit dient dem Eigennutz, dem Machterhalt.
Deshalb werden Ängste nicht besänftigt, sie werden - im Gegenteil - sogar geschürt.
Militär und PKK haben diese Politik der Angst inzwischen seit Jahren, seit Jahrzehnten
eingeübt. Im Moment, nach einer zeitweiligen Atempause, funktioniert diese Politik der
Angst wieder im alten Stil - mit Kämpfen und Toten auf beiden Seiten. Mit jedem Toten,
der zu den vielen Toten hinzukommt, wird die Lage schwieriger.
Das Land macht eine schwere Vertrauenskrise durch.
Der 62jährige Schriftsteller Zülfü Livaneli, dessen berühmte Lieder vielen Türken
über die schlimmsten Putschzeiten hinweggeholfen haben, sagte kürzlich: "Ich bin davon
überzeugt, dass der Geist der Türkei beschädigt ist. Aufgrund der Spaltung und Polarisierung
der türkischen Gesellschaft begegnen sich die unterschiedlichen Kreise mit tiefem Misstrauen.
Vom Taxifahrer bis zum Straßenhändler, von den Arbeitern bis zu den Intellektuellen -
weite Kreise der Gesellschaft haben das Gefühl, dass dieses Land allmählich verloren geht."
Zülfü Livaneli beschreibt die Krise als offene und ungelöste Identitätskrise.
"Die Türkei", sagt er, "lebt im Spannungsbogen zwischen osmanischer Tradition und
republikanischem Selbstverständnis, westlicher und östlicher Lebensart, islamischer
Frömmigkeit und laizistischer Staats-Auffassung, ethnischer Vielfalt und verfasster
Staatsbürgerschaft."
In einem einzigen Satz beschreibt der Schriftsteller die Vielfalt der türkischen Gesellschaft.
Diese Vielfalt hat es auch in früheren Jahrzehnten gegeben. Nur: etwas ganz Wichtiges ist
jetzt anders. Früher lag die Entscheidungsbefugnis des Landes einzig und allein bei der
kemalistischen Elite, bei den Hütern des Atatürk'schen Erbes, bei den sich modern und westlich
gebenden Städtern. Ihr Machtanspruch war mehr oder weniger unwidersprochen.
Und kam diesem Machtanspruch etwas in die Quere, dann schritt schlimmstenfalls das
Militär ein: 1960, 1971 und 1980. Im Zehnjahresrhythmus übernahm die Armee die Macht,
um die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Zuletzt, nämlich 1982, hinterließ das
Militär sogar eine Verfassung. Diese Verfassung räumt den Streitkräften eine starke
Stellung ein, und sie hat die bürgerlichen Freiheiten systematisch untergraben.
Doch diese Zeiten haben sich geändert. Das kann man auch daran erkennen, dass es mit
dem Militärstreich nach dem alten Muster nicht mehr klappen will:
Im Februar 1997 wurde der Regierung des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin
Erbakan in einem kalten Putsch von der Macht entfernt: das Militär hatte ein Memorandum
formuliert, eine verbale Drohgebärde also, und Erbakan trat zurück - einige Zeit später
gab es Wahlen. Die Streitkräfte blieben in den Kasernen.
Im April 2007 versuchten Kreise innerhalb der Armee eine Art nächtlichen Cyberputsch:
per Erklärung im Internet sollte die Wahl des islamisch-konservativen AKP-Politikers
Abdullah Gül zum Staatspräsidenten verhindert werden - was vorübergehend, nach organisierten
Massendemos und unter Mithilfe von CHP und Verfassungsgericht gelang. Wieder blieben
die Streitkräfte in den Kasernen.
Auch jetzt, im Juli 2008, soll es Putsch-Pläne gegeben haben - im Zuge der Verhaftungen
von Regierungs-Gegnern wurden Pläne zu Massenkundgebungen in den Städten und zur Ermordung
wichtiger Politiker und Wirtschaftsführer, von Befürwortern des Wandels, aufgedeckt.
Beweise liegen der Öffentlichkeit freilich keine vor. Wie dem auch sei - die Streitkräfte
sind bisher in den Kasernen geblieben.
Es gibt aber Gründe, weshalb es schwieriger geworden ist mit dem Putsch, mit dem
Durchregieren nach altem autoritärem Muster, mit der Einheits-Ideologie. Eine Ursache
ist sicherlich, dass sich das Land ökonomisch weit entwickelt hat. Die Unternehmer wissen,
dass die Wirtschaft von der Freiheit, von einem Leben und Arbeiten im Frieden profitiert.
Der Aufschwung, das stetige Wirtschaftswachstum, in den vergangenen fünf Jahren war nicht
nur für türkische Verhältnisse beträchtlich. Europäische Unternehmen investieren zunehmend
in der Türkei, allen voran deutsche Unternehmen. Es gibt aber noch eine Ursache, weshalb
sich nicht mehr im alten Stil durchregieren lässt. Diese Ursache hat mit einem
bemerkenswerten Erweckungsprozess zu tun: die Bevölkerung wird sich nicht nur zunehmend
ihrer Rechte bewusst, sondern auch ihrer Vielfalt. In den vergangenen Jahren ist mehr
und mehr deutlich geworden, wie vielschichtig die Bevölkerung der Türkei ist - ethnisch,
aber auch religiös.
Die sprichwörtliche Büchse der Pandorra ist geöffnet. In dem Moment, in dem man die
Unterschiede wahrzunehmen beginnt, in dem man anfängt, die Unterschiede zu beschreiben -
in dem Moment funktioniert es mit der alten Einheitsideologie nicht mehr.
Was ist das für eine real existierende Vielfalt, deren Wahrnehmung die Einheitsideologie
konterkariert - ja, wenn nicht sogar als Fiktion entlarvt? Wir kommen dem Kern des
türkischen Problems noch ein ganzes Stücken näher…
Da sind auf den ersten Blick die beiden großen Minderheiten: An die zwanzig Prozent der
Bürger sind Kurden, die einen sprechen Kurmanci, die anderen Zaza, beide Sprachen zählen
zur indo- europäischen Sprachfamilie, also nicht zur Familie der Turksprachen.
Gut zwanzig Prozent der Bürger - ob nun Kurden oder nicht - sind Aleviten, also
Angehörige einer schiitischen Mehrheit, die sich vom sunnitischen Mehrheitsislam der
Türkei in vielem unterscheidet. Sowohl die Kurden als auch die Aleviten sind also große
Minderheiten. Jeder in der Türkei, auch jeder sunnitische Türke, weiß das. Beide Gruppen
sind im Alltag präsent - als Nachbarn, Kollegen, Mitschüler etc.
In den vergangenen Jahren sind aber noch weitere Unterschiede deutlich geworden.
Es gibt Türken, deren Vorfahren aus Griechenland stammen, vom Balkan, aus Bulgarien,
Albanien oder Bosnien, aus dem Kaukasus, aus Aserbaidschan, Georgien oder Tschetschenien,
aus Zentralasien, aus Usbekistan oder Kirgisen, aus dem Süden Russlands oder von der
östlichen Schwarzmeerküste. Sie wanderten in der ersten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts ein.
In vielen Familien werden diese Migrationsgeschichten jetzt freigelegt. Oft sind es
gerade die jungen Leute, die fragen. Das alles ist neu. Ich kenne Türken, die nach
Sarajewo fahren, um dort das Grab ihrer Urgroßeltern zu suchen. Andere fahnden im
Kaukasus, beispielsweise in Georgien, nach den Spuren ihrer Familie. Oder in Bulgarien.
Oder auch auf Kreta.
Im Grunde geht es bei all diesen Erkundungen um eine Art Vergangenheitsbewältigung.
Diese Erkundungen reichen gute hundert Jahre zurück, bis in die Endzeit des Osmanischen Reichs.
Die gewaltigen Erschütterungen jener Zeit wirken bis heute nach: die Folgen der Jahrzehnte
währenden Kriege und des Zusammenbruch des Vielvölkerstaates.
Meiner Meinung nach muss man sich mit dieser Geschichte befassen, will man die Hintergründe
der politischen Probleme von heute verstehen lernen. Dieser Prozess hat in der Türkei
begonnen - er ist kompliziert und er erfordert Wissen. Dieser Prozess führt in eine Epoche,
deren Schrift kaum noch einer beherrscht: mit der Schriftreform 1928 wurde das arabisch
geschriebene Osmanisch mit unserer lateinischen Schrift ersetzt, und mehr noch: die
Sprache wurde per Order von oben türkisiert. Vor allem setzt dieser Prozess voraus,
dass angelernte Mythen über Bord geworfen werden. Man muss nur in die vielen Biografien
schauen oder die Erinnerungs-Bücher durchblättern, in denen Familiengeschichte erzählt
wird: da weicht vieles von der staatlich geprüften Geschichtsschreibung ab. Die Einzelnen
haben es ganz einfach anders erlebt. Dieser Erinnerungs- und Aufdeckungs-Prozess wird
von ganz unterschiedlichen Seiten vorangetrieben - insbesondere auch in der Kultur.
Schauen wir zurück - was ist denn damals geschehen, was sich bis heute auswirkt?
Ende des Ersten Weltkrieges, als die westeuropäischen Siegermächte den unterlegenen
Osmanen den Vertrag von Sevres diktierten, war nicht mehr viel übrig von dem Großreich
mit der gut achthundertjährigen Geschichte. 75 Prozent der Territorien waren verloren -
der Balkan, der Kaukasus, die Levante. Mehr noch: die Alliierten des Ersten Weltkriegs
hatten Kleinasien und Thrakien, die letzten scheinbar herrenlosen Trümmer des zerfallenen
Reichs, mehr oder weniger unter sich aufgeteilt. Britische, französische, italienische,
aber auch griechische, armenische und georgische Truppen waren in Anatolien eingerückt.
Istanbul war von den Briten besetzt. Ein großer Teil der Bevölkerung war nicht mehr da.
Die Leute waren geflohen, verschleppt, getötet - oder auch Bürger neuer Länder.
In Anatolien lebten keine 13 Millionen Menschen mehr - eine ausgepowerte, ungebildete,
versprengte Masse.
Das war die Ausgangslage - so trostlos wie hoffnungslos. Die neu gegründete türkische
Republik verklärt sie rückblickend zur Stunde Null: zum Beginn einer neuen Zeitrechnung,
die mit Mustafa Kemal, einem General der Osmanischen Armee, begann. Jedes Kind in der
Türkei kennt diese offizielle Lesart der Gründungsgeschichte der modernen Türkei:
Mustafa Kemal, damals 38 Jahre alt, fing 1919 an, seine Mitstreiter im östlichen
Anatolien zu versammeln. Er durchkreuzte mit seinen Truppen den Plan der Siegermächte.
Mustafa Kemal und seine Leute eroberten Anatolien innerhalb von vier Jahren zurück.
Der verzweifelte Kampf ist als Befreiungskrieg in die Geschichte eingegangen.
Bis heute wird das anti-imperialistische Bravourstück im Stil einer Siegeshymne besungen.
Allerdings ist diese Siegeshymne zugleich eine Hymne, die das Leid übertönt -
die unzähligen Klagen der Opfer und um die Toten. Ihr Leid wurde verdrängt.
Der neue Staat war zunächst ein Nichts. Um dies zu kaschieren, wurde eine Doktrin
geschaffen, und dieser Doktrin wiederum wurden die Menschen angepasst: die türkische
Einheits-Doktrin, die neue National-Doktrin. Verwirklicht wurde diese Doktrin in einer
Art Erziehungs-Diktatur. Es galt, den neuen Menschen zu schaffen: Er sollte schreiben
und lesen können, er sollte modern, aufgeklärt und säkular nach westlichen Vorstellungen
sein, im Auftreten wie im Denken, und er sollte sich zum türkischen Staat bekennen.
Der Staat erfand sich erst selbst, und dann erfand er sich sein Volk. Die Menschen
sollten sich selbst als Türken, nicht länger als Muslime sehen. Damit das funktionieren
konnte, wurden die Erinnerungen an die osmanisch-orientalische Vergangenheit radikal
gekappt. Der neue Staat, der 1923 wie ein Phönix aus der Asche auferstand, richtete
sich gewissermaßen am Türkentum auf.
Die Sprache ist dabei von Anfang an ein wichtiges Werkzeug gewesen. Jahrzehntelang war
es verboten, andere Sprachen als die türkische zu sprechen. Es gab Plakataktionen mit
dem Spruch: "Vatandas, türkce konus" - Landsmann, sprich Türkisch! "Ne mutlu türküm diyene"
- dieses Zitat findet sich auch heute noch überall: in Schulen und Ämtern, in Stein
gemeißelt und in Bronzetafeln gegossen, in Form von Blumen-Rabatten, die zum entsprechenden
Schriftzug gepflanzt worden sind, und an den markanten Berghängen in Anatolien:
sogar dort, im menschenleeren Nirgendwo stößt man unvermittelt auf den aus Gesteinsbrocken
geformten Spruch. "Ne mutlu türküm diyene". Das heißt so viel wie: "Glücklich, wer sagt:
ich bin ein Türke". Glücklich, wer sagt… heißt es also und wohlgemerkt nicht: glücklich,
der ist… Das ist eine feine, eine entscheidende und auch ehrliche Unterscheidung.
Zum Türken muss man sich erklären!
Das Einheitsbild des Türken gilt seither als das Maß aller Dinge. Doch dieses Einheitsbild
ist brüchig geworden - und jetzt sind wir wieder bei dem bemerkenswerten Erweckungsprozess,
von dem ich gesprochen habe. Dieses Einheitsbild wird immer häufiger infrage gestellt -
manchmal ganz unbewusst, manchmal aber auch ganz bewusst. Es wird als Ideal - oder man
könnte auch sagen: als Fake - enttarnt. Am besten lässt sich das im Kulturleben beobachten,
das seit den späten neunziger Jahren einen gewaltigen Inspirationsschub erfährt.
Die Künstler haben längst damit begonnen, sich von den Vorgaben des Staates zu befreien.
Vorbei die Zeiten, da sich die Schriftsteller der großen nationalen Sache verpflichtet
fühlten - und entsprechende Romane verfassten. Überall, in der Musik, beim Film, in den
Bildenden Künsten, in der Wissenschaft - zumindest an den privaten Universitäten -
werden seit ein paar Jahren die Identitätskonflikte und die Widersprüche des Landes
verhandelt. Die neuen Gedanken machen sich breit, setzen sich fest, beginnen, das Denken
zu prägen. Es ist, als würden neue Synapsen geschaltet…
Man darf die Bedeutung dieser Entwicklung nicht unterschätzen. Da spielen Musiker
plötzlich alte armenische, griechische, aramäische oder kurdische Lieder - und das in
einem Land, in dem staatlicherseits die Archivierung der Volksmusik in Form eines
systematischen Türkisierungs-Programms vorangetrieben wurde. Da schreiben Autoren wie
Orhan Pamuk oder Elif Shafak frei und ohne sich um ideologische Vorgaben zu scheren -
und das in einem Land, in dem sich die Literatur jahrzehntelang weithin der nationalen
republikanischen Sache verpflichtet hat. Da hat übrigens auch die Privatisierung des
Fernsehens dazu geführt, dass unzählige Programme das Meinungsspektrum gewaltig erweitert
und somit wie von selbst dem Staatsfernsehen TRT die alleinige Deutungshoheit entzogen haben.
Was beispielhaft zeigt: Zunächst die Wirtschaft, dann auch die Kultur haben den Wandel
vorangetrieben.
Die Reaktion folgt prompt. Und damit sind wir dem Kern des Problems noch näher: beim Kampf
um die Macht und die Deutungshoheit der Türkei heute. Dieser Kampf ist noch lange nicht
entschieden. Er geht jetzt nur in die nächste Runde.
Ich habe Schriftsteller gefragt, wie sie die Lage einschätzen - und mit ihren Antworten
möchte ich schließen.
Elif Shafak, die in dem Roman "Der Bastard von Istanbul" die Verflechtungen einer
armenischen und einer türkischen Familie erzählt, eine Geschichte voller bemerkenswerter
Frauen, Tabuverstöße und Entdeckungen, wurde angeklagt, weil eine ihrer Romanfiguren vom
Völkermord an den Armeniern spricht. Man stelle sich vor: ein Prozess wegen der Worte
einer fiktiven Figur! Selbst in einem solchen Fall kam der berühmt-berüchtigte Paragraph
301 aus dem Strafgesetzbuch, der die Herabwürdigung des Türkentums unter Strafe stellt,
zur Anwendung. Elif Shafak sagte: "In den vergangenen fünf Jahren hat sich unglaublich
viel verändert. Wir haben auch begonnen, über die sogenannte armenische Frage zu debattieren.
So paradox es wirkt: die Prozesse gibt es, gerade weil sich die Dinge verändern.
Je größer der Wandel ist, desto größer wird die Panik der Bewahrer."
Kann die Kultur, kann die Literatur diesen Wandel weiter vorantreiben? Ich habe das
kürzlich die Autorin Asli Erdogan gefragt. Sie trug eine Halskrause, weil sie sich eine
Verletzung unter den Wasserwerfern der Mai-Demonstration zugezogen hatte. Sie sagte:
"Die Türkei hat diese Tradition der Reflexe aus totalitären Zeiten. Man will alles z
usammenhalten, notfalls mit Gewalt." Dennoch hofft Asli Erdogan darauf, dass die
Gesellschaft die Polarisierung überwindet. Sie selbst engagiert sich in diesem Prozess
für die Rechte der Kurden. Sie gibt Schreibseminare in Gefängnissen, wo viele Kurden sitzen.
Sie gibt Seminare in der südostanatolischen Großstadt Diyarbakir, einer mehr oder weniger
kurdischen Stadt.
"Eine Gesellschaft", sagt sie, "muss sich schon selbst mit sich aussöhnen. Die Türken
müssen lernen, mit den Kurden zu sprechen. Und die Kurden müssen lernen, mit den Kurden
zu sprechen. Ich habe mich deshalb im Kulturzentrum von Diyarbakir engagiert. Da hat mich
niemand gefragt: Bist du kurdisch oder türkisch? Gefragt wurde ich: Willst du ein Seminar
geben? Das Publikum war gemischt. Nicht alle Kurden sind für die PKK. Ich habe in
Diyarbakir Frauen getroffen, die sich von der Angst gelöst und den Hass transzendiert haben.
Solche Begegnungen helfen voran."
Wie sagen die Leute in der Türkei? Die Menschen sind weiter als der Staat, als der Apparat!
Solche Begegnungen helfen voran. Das Potenzial ist da - auch in diesen unruhigen und
beunruhigenden Zeiten. Die EU könnte hier eine wichtige, unterstützende Rolle spielen.
Nichts ist für immer verloren. Aber man muss lernen, die Rückschläge zu überwinden.
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