Leitartikel in der SÜDWEST PRESSE vom 26. Juli 2007, S. 17
Ferienbeginn
Die Glückskinder der 9a
Ferien! Nach dem morgigen Freitag auch vollends in Bayern,
mithin in Neu-Ulm. Für alle Jugendlichen, die den Hauptschulabschluss
gemacht haben, fängt dann im September ein neuer Lebensabschnitt an.
Entweder in Zukunftsangst oder im Frust eines Berufsvorbereitungsjahres,
weil die Suche nach Lehrstellen erfolglos war. Oder mit dem, womit damals
auch unsere Alten uns schon in den Ohren lagen: mit dem Ernst des Berufslebens.
Abschied von der Hauptschule haben auch die 17 Jugendlichen der Klasse 9a
der Martin-Schaffner-Schule genommen. Die Lokalredaktion hat sie seit
März beim Ringen um Ausbildungsplätze begleitet. Von einer Ausnahme abgesehen
blicken alle in gespannter Erwartung und mit entspannten Gesichtern in die
Zukunft, haben doch zwölf von ihnen eine Lehrstelle gefunden, zwei mit der
Einstiegsqualifizierung die Vorstufe dazu und zwei weitere sich Richtung
Mittlere Reife aufgemacht.
Ein solche Erfolgsquote ist unter Hauptschul-Absolventen ungewöhnlich;
es gibt andere Klassen in Ulm, in denen vier Fünftel der Kinder keinen
Ausbildungsplatz haben. Die Jugendlichen der 9a sind also Glückspilze.
Sie hatten das Glück, dass unsere Wahl auf sie fiel und die drohende
Perspektivlosigkeit dadurch Gesichter bekam. Dies schmälert nicht die
schöne Erfolgsbilanz, aber sie relativiert das Ergebnis, denn hunderte
anderer Schüler hatten nicht die Gelegenheit, ihr Schicksal vor aller
Augen vorzutragen.
Vor allem hatte die 9 a das unverschämte Glück, nicht nur unterstützt
worden zu sein von Schulsozialarbeitern wie Eckhard Geiger und
Silvia Armbruster, sondern eine Klassenlehrerin an der Seite zu haben
wie Elisabeth Egle. Jenseits des Streits um die Hauptschule sind
für sie die Schüler das Maß der Dinge. Selbst am vorletzten Schultag
noch setzte sie sich mit einem Mädchen ihrer Klasse ins Auto, fuhr
auf die Alb nach Merklingen, zum - erfolgreichen - Vorstellungsgespräch.
Elisabeth Egle erlebt seit mehr als 25 Jahren als Lehrerin den
schleichenden Verfall des Stellenwertes der Hauptschule.
Dagegen hilft kurzfristig nur persönlicher Einsatz - sei es von Lehrern
und Sozialarbeitern, die oft genug Ersatz für überforderte Eltern sind,
seien es Unternehmer, die sich in den Initiativen der IHK als Jugendbegleiter
oder in Schulpartnerschaften ebenso bemühen, Hauptschüler überhaupt noch
an die Schwelle der Firmen zu bringen. Werden sie erst einmal vorgelassen
und können sich auch noch im Praktikum beweisen, dann haben die Hauptschüler
meist gewonnen, denn dann spielen die Noten und die Konkurrenz der
Realschüler meist keine Rolle mehr.
Individuelle Hilfen sind unverzichtbar. Sie sollten ergänzt werden
um Deputatsstunden, die Hauptschullehrer gezielt nutzen können zur
persönlichen Betreuung ihrer Schützlinge. Dies alles aber ersetzt
nicht die Strukturreform, gegen die sich die Kultuspolitik im Land
nach wie vor wehrt. Fernab reichlich akademischer Debatten um die
Qualität des Unterrichts und um Lehrpläne ist unser dreigliedriges
Schulsystem starr und einfältig, weil es individuelle Förderung
vernachlässigt.
Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Gerade der Erfolg unserer
Aktion mit der 9a lehrt, dass das Ende dieser Schulart eine Frage
der Zeit ist. Wenn die Hauptschule derart an Ansehen und Boden verliert,
kann sie sich nicht mehr halten. Denn sie produziert Verlierer,
die keine Verlierer zu sein brauchen. Siehe die 9a.
Erscheinungsdatum: Donnerstag, 26.07.2007 Quelle:
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